Marie Buchner

Die Aufopferungsvolle

Anna Maria Karoline Henriette Buchner (1832 – 1891), genannt Marie, ist nicht zu verwechseln mit der Schriftstellerin Marie Buchner (1872 – 1931), der jüngsten Tochter Wilhelm Buchners, die ihrer Tante in der 1929 veröffentlichten Familienchronik Es rollt die Zeit ein anrührendes literarisches Denkmal gesetzt hat:

D a s   T ä n t i.

[Seit dem Umzug] waren ein paar Jahre vergangen. Die anderen Brüder hatten auch geheiratet — leider nicht in derselben Stadt, und das Tänti war aus ihrem stillen Leben herausgerufen worden, an Wochenbetten und in Krankenstuben. Sie hatte gepflegt, getröstet und aufgeheitert. So etwas wie das Tänti gab es nicht wieder. Sie kannte weder Müdigkeit noch schlechte Laune, und sie wusch und wickelte die kleinen Kinder mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie den Haushalt übernahm und die Schulaufgaben der Großen beaufsichtigte. […]

­­­ War das Tänti zu Hause, dann wurde ihr Gaststübchen nicht leer. Es war himmlisch, die Ferien bei ihr verbringen zu dürfen. Man konnte schlafen, so lange man wollte, man durfte Butter und Honig zugleich aufs Brot streichen, man machte Ausflüge , man erlebte seine ersten Theaterabende, es wurden lebende Bilder gestellt und Scharaden [Pantomimenspiele] aufgeführt, man durfte die ganze kleine Etage um und um drehen, wenn man nur wieder Ordnung schaffte. Unter den Kastanien im Garten war eine wundervolle Schaukel; auf der flog man bis in die Wipfel hinein, oder man schwang ganz leise darauf hin und her, vertieft in irgendeinen Schmöker, den man in einem Winkel des Hauses aufgefunden hatte. […]

Einmal traf eine ihrer Nichten sie mit einem Kasten voll Briefe vor, die in Päckchen geordnet und mit Seidenfäden zusammengebunden waren. »Das sind Briefe, die meine Mutter und ich einander geschrieben haben,« sagte das Tänti.

­­­ Das junge Mädchen sah sie fragend an: »Aber Tänti, ich meinte, du wärest nie von der Großmutter getrennt gewesen!« »Das war ich auch nicht,« erwiederte sie; »aber als ich in dein Alter kam, da beschäftigten mich so mancherlei Fragen, die ich mich scheute bei Tage auszusprechen, kindische Dinge vielleicht, religiöse Zweifel, allerlei Herzensunruhen, die einem jungen Menschenkind kommen, wenn es aus der Kindheit erwacht und das Leben immer rätselhafter erscheint. Wir führten ein unruhiges Haus: da waren die vier Brüder und ihre Freunde und die Pflegeschwester, deren wildes Temperament mir immer fremd blieb, da war der literarisch-politische Zirkel, der sich um deine Großeltern gesammelt hatte; wir hatten viel Geselligkeit, und ich mußte tüchtig springen, um mit allem fertig zu werden. Aber abends, wenn ich der Mutter gute Nacht gewünscht hatte und in meinem Stübchen saß, dann mußte ich noch vertraulich mit ihr reden, und ich schrieb alles nieder, was ich nie gewagt haben würde, mündlich zu sagen. Ich legte meinen Brief in ihren Handarbeitskorb, und den Abend darauf fand ich ihre Antwort in meinem Nähkörbchen. Wir sprachen nie über unseren geheimen Briefwechsel, wir nickten uns nur über die Köpfe der vielen Menschen, die sich tagsüber zwischen uns drängten, mit den Augen zu, und ich fühlete mich beseligt und bevorzugt vor allen. Erst als meine Brüder die Universität bezogen und die Pflegeschwester sich verheiratete, trat an die Stelle unseres Briefwechsels ein inniger Gedankenaustausch von Mund zu Munde. Aber dann kam meines Lebens heißester Schmerz und Entsagen über mich, der Tod der Mutter und der Verzicht auf den geliebten Jugendfreund — zu jener Zeit glaubte ich zusammenbrechen zu müssen …«
[S. 203-208]